HNA vom 18. April 2024

Prächtiger Bau über der Stadt

REAKTIONEN AUF LEBENSERINNERUNGEN Sophie Henschel und die Villa am Weinberg

 

Auf dem Weinberg: Der Schnappschuss von Sophie Henschel und ihrem Sohn Karl ist mit großer Wahrscheinlichkeit an der Freitreppe der alten Henschel-Villa entstanden. FOTO: VEREIN HENSCHELMUSEUM
Auf dem Weinberg: Der Schnappschuss von Sophie Henschel und ihrem Sohn Karl ist mit großer Wahrscheinlichkeit an der Freitreppe der alten Henschel-Villa entstanden. FOTO: VEREIN HENSCHELMUSEUM

„Es war mir ganz wehmütig, die Fabrik, wo ich fast neun so glückliche Jahre verlebte, zu verlassen.“

Sophie Henschel über den Umzug in die Villa auf dem Weinberg

„Wohnhaus mit Garten“: Die Villa der Fabrikantenfamilie amWeinberg wurde 1869 von Oskar Henschel in Auftrag gegeben und 1871 bezogen. FOTO: STADT KASSEL
„Wohnhaus mit Garten“: Die Villa der Fabrikantenfamilie amWeinberg wurde 1869 von Oskar Henschel in Auftrag gegeben und 1871 bezogen. FOTO: STADT KASSEL

VON CLAUDIA FESER


Kassel – Sophie Henschel beeindruckt die Kasseler auch 109 Jahre nach ihrem Tod – das zeigen die Leser-Reaktionen auf unsere vierteilige Serie über die Lebenserinnerungen, die Sophie Henschel drei Jahre vor ihrem Tod verfasst hat. Das liegt wohl auch an der Menschlichkeit, mit der die Lokomotiv-Fabrikantin das Unternehmen führte – wohlgemerkt in einer Zeit, als Frauen in Deutschland noch nicht einmal das Wahlrecht hatten. Sophie Henschel sorgte für sichere Wohn- und Lebensverhältnisse ihrer Henschelaner. Und noch heute sind ihre Spuren sichtbar, die sie allen Kasselern hinterlassen hat, etwa der Krankenhausbau an der Hansteinstraße und der Brunnen vor dem Rathaus. Gleichwohl war sie eine monarchietreue Frau, das zeigen auch die beiden Exemplare ihrer Lebenserinnerungen, die sie in lateinischer Schreibschrift verfasst hat und die sich im Eigentumdes Vereins Henschelmuseum befinden. Ein Buch ist in der Dauerausstellung des Museums an der Wolfhager Straße zu besichtigen. Im dortigen Archiv befindet sich auch ein Schnappschuss von Sophie Henschel und ihrem Sohn Karl, der sie vor einem schmiedeeisernen Geländer zeigt. Zu diesem Bildmeldete sich der Kasseler Historiker Christian Presche bei der HNA mit dem Hinweis, dass das Foto seinen Recherchen nach an der Henschel-Villa an der Weinbergstraße 23 aufgenommen worden sein muss.

Das Geländer entspreche dem an der gartenseitigen Freitreppe, was Presche aufgrund mehrerer Fotovergleiche herausgefunden hat. Er geht davon aus, dass das Geländer aus der Henschel-Fabrik stammt, schließlich fertigte diese nicht nur Lokomotiven, sondern beispielsweise auch die Teufelsbrücke im Bergpark.
Die opulente Villa hatte Sophie Henschels Ehemann Oskar um 1870 bauen lassen. In ihren Lebenserinnerungen notiert sie: „Schon im Sommer 1866 stand Oskar in Verhandlung wegen des Ankaufs des Grundstücks, wo jetzt das Landkrankenhaus steht. Der Garten am Wohnhaus war fast ganz durch notwendige Fabrikbauten verschwunden (Familie Henschel lebte seit Generationen in einer Villa auf dem Firmengelände, und der alte Villengarten war im Laufe der Jahre mit Gebäuden der expandierenden Fabrik bebaut worden). Durch den Krieg (gemeint ist der Deutsche Krieg im Jahr 1866, bei dem Preußen Österreich besiegte) war die Ausführung des Plans, sich abseits der Fabrik ein Wohnhaus mit Garten zu schaffen, verschoben worden. Aber im Herbst 1867 trat Oskar der Idee wieder näher. Der Makler Hornthal wurde beauftragt, den sogenannten Schanerschen Felsenkeller auf dem Weinberg zu kaufen, für 16 000 Taler und 60 Taler Provision. Der Kauf wurde definitiv Silvester abgeschlossen. Oskar skizzierte eine Villa, wonach zwei hiesige Architekten versuchten, Pläne zu machen, die aber Oskar nicht gefielen. Er wandte sich dann an Professor Lucae in Berlin (dieser war beispielsweise Architekt des Opernhauses in Frankfurt und der Technischen Hochschule in Berlin), der unter Beibehaltung von Oskars Grundriss sehr hübsche Pläne fertigte, nach denen die jetzige Villa gebaut wurde. Zur damaligen Zeit gab es noch keine Wasserversorgung in Kassel, die öffentliche Versorgung der Stadt mit fließendem Trinkwasser kam erst Anfang der 1890er-Jahre.
Das hatte auch Auswirkungen auf den Henschel-Hausbau auf dem Weinberg. „Es wurde, da noch keine Wasserleitung in Kassel war, ein schon auf dem Grundstück befindlicher Brunnen bis auf das Fuldaniveau vertieft und mit Schwungrad durch vier Leute das Wasser heraufbefördert.
(...) Am 18. März 1871 bezogen wir die Villa auf dem Weinberg. Es war mir ganz wehmütig, die Fabrik, wo ich fast neun so glückliche Jahre verlebte, zu verlassen. Besonders schwer trennte ich mich von meiner lieben Schwiegermutter, denn wenn wir uns auch später fast täglich sahen, so war doch ein so häufiges Zusammenkommen wie bisher nicht mehr möglich.“
Die Villa von Sophie und Oskar Henschel wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört und stand noch Jahre nach Kriegsende als Ruine auf dem Weinberg. Das benachbarte Haus von Sohn Karl (1904 gebaut) wurde 1932 abgerissen. In einem Interview mit der HNA im Jahr 2009 sagte Werner P. Henschel, Sohn des letzten Firmenchefs Oscar R. Henschel, dass bei dem Abriss auch die Zahlung einer Luxussteuer für die Villa eine Rolle spielte.
Sein Vater habe die Villa zunächst der Stadt angeboten, die abgelehnt habe. „Dann hat er das Haus einer Abbruchfirma geschenkt“, sagte Henschel im HNA-Interview.
Im Kaiserreich, als seine Urgroßmutter Sophie Henschel lebte, waren zwar keine Monarchen zu Gast auf dem Weinberg – zumindest erwähnt sie dies nicht in ihren Lebenserinnerungen – wohl aber in der Fabrik, beispielsweise Kaiserin Augusta im Jahr 1878. Weitere Treffen gab es in Berlin. Sophie Henschel erinnert sich an ein kaiserliches Festessen. Ihr Sitzplatz an der Tafel „war der kaiserlichen ganz nahe, so konnte ich gut die Kaiserin sehen, welche neben dem Prinzen von Wales, nachmaligem King Edward, saß. Der Kaiser, die Kaiserin, die Kaiserin Friedrich (das war die Mutter des Kaisers) und viele andere redeten mich bei der nach beendeter Tafel stattfindenden Coeur an.“


HNA vom 15. April 2024

Nelkenstrauß statt Ehre für Sophie Henschel

LEBENSERINNERUNGEN Fabrikantin setzte Maßstäbe im Unternehmen und in der Gesellschaft

Villen auf dem Weinberg: Die Familie Henschel lebte auf dem Weinberg. Die rechte Villa ließ Oskar Henschel 1871 erbauen, das Haus Henschel links daneben 1903 sein Sohn Karl. 1932 wurden die Häuser abgerissen. FOTO: SAMMLNG HORST HAMECHER
Villen auf dem Weinberg: Die Familie Henschel lebte auf dem Weinberg. Die rechte Villa ließ Oskar Henschel 1871 erbauen, das Haus Henschel links daneben 1903 sein Sohn Karl. 1932 wurden die Häuser abgerissen. FOTO: SAMMLNG HORST HAMECHER


Sophie Henschel (1841-1915) hat mit 71 Jahren ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Sie zeigen ein ganz privates Bild der Kasseler Fabrikantin.Wir veröffentlichen ihre Erinnerungen in Auszügen.

VON CLAUDIA FESER


Kassel – Die Lebenserinnerungen, die Sophie Henschel für ihre Kinder verfasst hat, sind chronologisch geordnet und so gestochen scharf wie das Schriftbild der damals 71-Jährigen.
Es war gerade vier Jahre her, dass sie sich aus den Geschäften der Lokomotivbaufirma Henschel & Sohn zurückgezogen hatte. Die Fabrik hat ihr Leben bestimmt, schließlich hat sie sie nach dem Tod ihres Ehemannes Oskar 18 Jahre lang erfolgreich weiter geführt.Wie war das möglich für eine Frau, die Mitte des 19. Jahrhunderts geboren war?
In ihren Lebenserinnerungen dokumentiert Sophie Henschel das Bild einer Ehe gleichberechtigter Partner auf Augenhöhe: „Es war so nett, dass morgens und nachmittags die Geschäftsbriefe auf unseren Esstisch gelegt wurden und ich sie öffnen und lesen durfte. Die angenehmen legte ich dann stets obenauf. Ich lernte dadurch die Geschäftsverhältnisse viel besser kennen, wie das sonst der Fall gewesen wäre.“
Ihr Ehemann kümmerte sich um seine Arbeiter und ließ die ersten Wohnungen für deren Familien bauen.
1873 beschäftigte Henschel 1400 Arbeiter und lieferte 123 Lokomotiven ab. Kurze darauf begann die Wirtschaftskrise: 1876 wurden nur 69 Loks ausgeliefert, 1877 nur 43. Aber die Zeiten wurden besser: 1883 wurden bereits wieder 212 Loks und acht Kessel abgeliefert.

Jubiläums-Feiern

Vom Jahr 1885 berichtet Sophie Henschel: „Am 25. Juli (es war ein Samstag) war die 2000. Lokomotive fertig. Sie war schön geschmückt von 9 bis 18 Uhr (...) zu besichtigen. Die Arbeiter hatten einen freien Tag, den sie in verschiedenen Wirtschaften mit ihren Angehörigen feierten, da für eine gemeinsame Festlichkeit kein Lokal groß genug war. Oskar ließ ca. 15 000 Mark an Arbeiter, Invaliden und Arbeiterwitwen verteilen. Karl (der damals zehnjährige Sohn und spätere Firmenchef) war fast den ganzen Tag in der Fabrik und schenkte Beamten und Arbeitern, die er kannte, seine Fotografie, auf der er in Hemdsärmeln und Arbeiterschürze an einer Hobelbank arbeitete, auf welcher geschrieben stand „Der jüngste Arbeiter von Henschel & Sohn“. Die Auslieferung der 10 000. Lokomotive im Jahr 1910 erlebte Oskar Henschel nicht mehr, seit 1894 war seine Frau Sophie Chefin, Sohn Karl war 1900 als Teilhaber ins Unternehmen eingetreten. Das Lok-Jubiläum fiel mit dem 100-jährigen Firmenjubiläum zusammen.
Die Fabrikantin Sophie Henschel erinnert sich an die Feier für die Arbeiter in der Montagehalle – die Beamten der Firma feierten im Grand Hotel in Wilhelmshöhe: „Bei der Feier war sie (die Lok) so schön mit Tannenbäumen, Girlanden, Kränzen und elektrischen Lichtkörpern geschmückt. Hinter dem Rednerpult befand sich die 10 000. Lokomotive mit Blumen geschmückt, ein technisches Meisterwerk.“
Bei der Feier war auch ein Vertreter des Kaisers zugegen. Sophie Henschel erinnert in ihren Aufzeichnungen, wie er feierlich das Wort ergriff: „Im Auftrag seiner Majestät des Kaisers fordere ich Sie auf, sich mit mir in dem Ruf zu vereinigen: Die Firma Henschel & Sohn, deren Chefs, Beamte und braven Arbeiter – Hurra. (...) Die 200 geladenen Gäste begaben sich zum Festessen ins Rathaus.“

Sozialleistungen

Bei außerordentlichen Ereignissen wie Jubiläumslokomotiven, Sophie Henschels Geburtstagen, Karls Hochzeit und der 1000-Jahr-Feier der Stadt wurden allen Arbeitern außerordentliche Lohnvergütungen ausgezahlt. Zudem führte die Unternehmerin die Sozialleistungen, die ihr Ehemann für die Arbeiter und deren Angehörige in Gang gesetzt hatte, fort und baute sie aus. Die Fabrikantin fühlte sich für das Wohl der Arbeiter zuständig.
So wurde 1905 das firmeneigene Wohlfahrtshaus an der Ysenburgstraße gebaut, also in der Gegend, wo die meisten Henschelaner mit ihren Familien lebten. Im Wohlfahrtshaus gab es beispielsweise eine Kleinkinderschule, eine Badeanstalt und Waschküchen.
Sophie Henschel schreibt: „An meinem Geburtstag 1905 stiftete ich eine Fortbildungsschule für 300 bis 400 Lehrlinge der Henschelschen Fabrik (...) und 100 Freistellen für kränkliche Kinder unserer Arbeiter zur Kur in einem Badeort. Die durchschnittliche Arbeiterzahl betrug Ende Dezember 1906 4254, abgeliefert wurden 520 Lokomotiven.“ Für das Jahr 1907 hält sie fest: „In der Fabrik wurde die Arbeit mit Pressluft eingeführt. (...) 1909 wurden 704 Lokomotiven geliefert und die durchschnittliche Arbeiterzahl betrug 5476.“

Keine Ehrenbürgerin

Die Verdienste der Sophie Henschel für die Henschelaner und die Kasseler lassen sich noch weiter fortsetzen. Das registrierten damals auch die Stadtoberen – und doch war es eine andere Zeit, in der eine Frau an der Spitze einer so großen Fabrik stand.
Wie ungewöhnlich das war, zeigt sich beispielsweise in einem Erlebnis, von dem Sophie Henschel in ihren Lebenserinnerungen berichtet: Es geht um die Einweihung des neu gebauten Rathauses am 12. Juni 1909, infolgedessen sie in der Villa auf dem Weinberg Besuch bekam: „Der Oberbürgermeister kam in seiner goldenen Amtskette und überreichte mir einen Nelkenstrauß. (...) Es hätte die Absicht vorgelegen, mir das Ehrenbürgerrecht der Stadt zu verleihen. Es wäre dies aber noch nie einer Frau verliehen worden und hätten sich dem unüberwindliche Hindernisse entgegengestellt. Man hätte mein Porträt im Fries des Rathaus-Saales anbringen wollen, was ich jedoch ablehnte. Sehr dankbar war ich aber, dass der Magistrat dem Vaterländischen Frauenverein (dessen Vorsitzende sie war) gestattete, in den schönen Räumen einen Fünf-Uhr-Tee zu veranstalten.“
Die Lebenserinnerungen von Sophie Henschel sind in einem aufwendigen Buch mit Goldschnitt gebunden. Eines davon befindet sich im Eigentum des Henschelmuseums. Die HNA hat das exklusive Recht, Auszüge daraus zu veröffentlichen. Mit der heutigen Folge endet unsere Serie über die Lebenserinnerungen von Sophie Henschel.

Sophie Henschels Treue zur Kaiserin

Das Verhältnis des Ehepaars Henschel zum deutschen Kaiserhaus lässt sich im Mindesten als wohlgesonnen bezeichnen.
Häufig trafen die Familien aufeinander, in Kassel und auch bei Feierlichkeiten, etwa in Berlin. Im Herbst 1878 war die Kaiserfamilie in Kassel, wo „ein Kaisermanöver“ stattfand, wie Sophie in ihren Lebenserinnerungen berichtet. In diesen Tagen besuchte Kaiserin Auguste Victoria die Henschel-Fabrik. Elisabeth Henschel, die älteste Tochter, „überreichte ihr ein Bukett von Kornblumen und weißen Rosen, auch erhielt die Kaiserin eine Mappe mit Fotografien von Lokomotiven. Dieselbe hat sie dem Hohenzollernmuseum überwiesen“, schreibt ihre Mutter in den Lebenserinnerungen. Zum Andenken an ihren Aufenthalt „ließ die Kaiserin mir eine kunstvolle Brosche mit dem preußischen Adler mit dem Wunsche überreichen, dass mir dadurch eine Freude bereitet würde.“
1890 war das Ehepaar Henschel in Berlin. Beim Fest des Luisenordens saß Sophie Henschel beim Gottesdienst in der Schlosskapelle „unmittelbar hinter den fürstlichen Damen am Altar. Die Tafel (...) war der kaiserlichen ganz nahe, so konnte ich gut die Kaiserin sehen, welche neben dem Prinz von Wales, nachmaligem König Edward, saß. Der Kaiser, die Kaiserin (...) redeten mich bei der nach beendeter Tafel stattfindenden Coeur an.“
1901 erhielt Sophie Henschel anlässlich ihres 60. Geburtstages ein Bild der Kaiserin überreicht. Und als die Fabrikantin an einer Gürtelrose leidet, lässt die Kaiserin ein Blumenbouquet in die Villa schicken. 1902 erhält Sophie Henschel die Kaiserin-Augusta-Medaille, die jährlich nur zwei bis drei Personen verliehen wird. Sie schreibt: „Diese Auszeichnung, welche der Familie nach meinem Tode verbleibt, hat mich sehr gefreut.“
1907 war die Kaiserin wieder in Kassel. „Am 21. August ließmir die Kaiserin telegrafieren, dass siemich abends um7 Uhr im Wilhelmshöher Schloss empfangen möchte.“ Dort wurde die Fabrikantin statt in den Salon ins Ankleidezimmer der Kaiserin gebeten, wo diese auf einem Ruhebett lag: Die Kaiserin hatte sich bei einem Sturz das Bein verletzt. „Ich war ja auch in früheren Jahren öfters aufgefordert worden zu kommen, erwähne es dieses Mal nur wegen der Nebenumstände“ – womit Sophie Henschel vermutlich das verletzte Bein und die Folgen meinte.

Fabrik-Jubiläum begann am Grab der Familie

Sophie Henschel hat sich mit der Fabrikantenfamilie, in die sie 1862 eingeheiratet hatte, vollkommen identifiziert.
1910, also beim 100. Firmenjubiläum, stand sie seit 16 Jahren der Firma Henschel & Sohn vor. Die Feierlichkeiten begannen mit einer „schönen, würdigen Gedenkfeier, welche die Sängervereinigung an der Henschelschen Ruhestätte auf dem Friedhof veranstaltete.Währenddessen war der Friedhof für Unbeteiligte nicht zugänglich.“
Sophie Henschel berichtet von einer „erhebenden Feier, welche allen Anwesenden unvergesslich bleiben wird. Die Beamten und Arbeiter hatten alle Gräber mit zart lila Ageratum bepflanzen lassen. Lorbeergirlanden umzogen das eiserne Geländer und schmückten den Obelisken, an dem ich Lorbeerzweige aus Bronze hatte anbringen lassen. Unter dem Relief von Oskar (1894 verstorben) hatte ich auch die Kranzschleife drucken lassen: „Die Liebe höret nimmer auf.“


HNA vom 11. April 2024

„Sein treues Herz tat den letzten Schlag“

LEBENSERINNERUNGEN Krankheiten und Sorgen gehörten zum Leben Sophie Henschels

Gestochen scharfe Handschrift: Sophie Henschel hat in ihren Lebenserinnerungen die Hochzeiten ihrer Kinder fein säuberlich aufgelistet. Damals war sie 71 Jahre alt, am Grauen Star operiert und hatte einen leichten Schlaganfall erlitten. FOTO: CLAUDIA FESER
Gestochen scharfe Handschrift: Sophie Henschel hat in ihren Lebenserinnerungen die Hochzeiten ihrer Kinder fein säuberlich aufgelistet. Damals war sie 71 Jahre alt, am Grauen Star operiert und hatte einen leichten Schlaganfall erlitten. FOTO: CLAUDIA FESER


Sophie Henschel (1841-1915) hat mit 71 Jahren ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Sie zeigen uns ein ganz privates Bild der Kasseler Lokomotivfabrikantin. Wir veröffentlichen ihre Erinnerungen in Auszügen.

VON CLAUDIA FESER


Kassel – Die Lebenserinnerungen der Sophie Henschel (1841-1915) sind ein bemerkenswertes Zeitdokument ihres Lebens um die Jahrhundertwende.
Abschriften an die Kinder werden im Familienarchiv des Vereins Henschelmuseum aufbewahrt.
Die in Sütterlinschrift verfassten Erinnerungen wurden von Christa Forcht transkribiert und geben einen Einblick in das Leben und auch die Sorgen der Unternehmerin Sophie Henschel, die auch Mutter und Großmutter war.
Schließlich lebte sie in einer Zeit, in der Krankheiten aufgrund fehlender Medikamente lebensbedrohend waren, selbst bei begüterten Familien – bei vier Kindern kamen so manche Krankheiten zusammen. Insbesondere Sohn Karl war kränklich, und die Eltern in Sorge um den Stammhalter.

Typhöses Fieber

Krankheiten ziehen sich durch alle 65 Seiten der Erinnerungen. Als Erstes erwähnt Sophie Henschel eine schwere Erkrankung der erstgeborenen Tochter Erna, die damals vier Jahre alt war. Sie schreibt: „Am 8. Juni 1870 kamen Oskar und ich von einem Familientag in Rotenhoff (Sophie Henschel ist auf der Domäne Rotenhoff bei Minden aufgewachsen) zurück, folgenden Tags brach bei Erna ein typhöses Fieber aus, ich pflegte sie Tag und Nacht allein, undwährend sie sich langsamerholte, kamen die ersten beunruhigenden Nachrichten über einen zwischen Deutschland und Frankreich bevorstehenden Krieg.“

Herzleiden

Den ersten Todesfall erwähnt sie für 1872: „Meine Schwiegermutter war den Winter über viel leidend (...). Es hatte sich ein Herzleiden ausgebildet, und sie hatte Wassersucht in den Beinen. Sie saß noch amTag vor ihremTod in einem Fahrstuhl und pflückte sich Erdbeeren von einem Stöckchen, das ich ihr mitgebracht hatte. Als ich sie am13. April vormittags besuchen wollte, war sie sanft entschlafen.
Sie soll geäußert haben, es ließe sich ruhiger sterben, da gerade ich die Frau ihres Sohnes wäre!“

Gehirnkrampfanfälle

Nach einer fünfwöchigen Italienreise kehrten Oskar und Sophie Henschel am 16. Mai 1874 zurück nach Kassel.
„Abends bekam Luischen (die zweitälteste Tochter, damals acht Jahre alt) Diphteritis und am 9. Juni während eines sehr heftigen Gewitters Karl (sieben Monate alt) Gehirnkrampfanfälle, die bis zum 11. andauerten. Sein Zustand war höchst gefährlich. Da fing ich an, dem Kleinen, ohne ihn zu berühren, mit meiner Hand das Beinchen abwärts zu streichen, ich dachte, es könnte ihn beruhigen. Medizinalrat von Wild sagte, ich hätte Karl magnetisiert, er schlief ein und war gerettet, wenn er auch noch Jahre vor Gewitterluft und Erhitzung gehütet werden musste.“

Rheuma, Blutspeien

1875 erkrankten die beiden ältesten Töchter schwer. Ihre Mutter schreibt: „Erna (damals 3 Jahre alt) erkrankte im Januar schwer an Gelenkrheumatismus. (...) Im Herbst bekam sie nach längerem Hüsteln Blutspeien und wurde (...) auf sieben Monate nach Nizza und Cannes geschickt. (...) Am 16. Mai erkrankte Luise (knapp zehn Jahre alt) an einer sehr langwierigen Rückenwirbelentzündung, sie ertrug die Schmerzen mit rührender Geduld.“

Scharlachfieber

1881, kurz nach Luises Konfirmation, „erkrankte Erna an einem sehr schweren typhösen Scharlachfieber. Nachdem sie genesen, war ich (...) zur weiteren Erholung mit den älteren beiden Töchtern und Karl (...) in meiner alten Heimat Rotenhoff.“

Blinddarmentzündung

1883 verzeichnete die Mutter Sophie Henschel die erste linddarmentzündung bei ihrem damals siebenjährigen Sohn Karl.

Wirbelentzündung

1890 gilt die Sorge der Henschels wieder dem Stammhalter, der damals knapp 15 Jahre alt war: „Karl erkrankte am 15. September an Rückenwirbelentzündung, absolute Ruhe im Bett auf schmalem Eisfach liegend wurde notwendig. Geheimrat König aus Göttingen kam zwei Mal zur Konsultation hierher. Wegen Karls schwerer Erkrankung wurde Elisabeths Hochzeit in kleinstem Familienkreis am 29. Dezember gefeiert.“

Blasenblutung

Die nächste schwere Erkrankung hatte Oskar Henschel. An Himmelfahrt 1891 besuchte er mit Ehefrau Sophie die verheiratete Tochter Luise in Schwebda (Werra-Meißner-Kreis), wo Oskar Henschel mit Schwiegersohn Alex „eine lange Fahrt auf einem arg stoßenden Jagdwagen“ machte. Sophie Henschel schreibt: „Auf diese Erschütterung wurde es geschoben, dass Oskar nach unserer Heimkehr eine starke Blasenblutung bekam. Geheimrat König aus Göttingen kam und es wurde festgestellt, dass Oskar ein typisches Blasenpapillon hatte und keinerlei bösartige Erkrankung der Blase. Aber der Druck, der seitdemauf Oskars Gemüt lastete, war schlimmer als das Leiden selbst und war ein großer Kummer für ihn, dass die Ärzte die gewohnte Reise nach Norderney nicht gestatten wollten, da sie fürchteten, die lange Eisenbahnfahrt wurde von Neuem eine Blutung hervorrufen. (...)

Schwere Migräne

„Auf dringenden Rat der Ärzte beschränkte Oskar ja etwas seine rastlose Tätigkeit in der Fabrik, aber gerade wenn sich ein Migräneanfall vorbereitete, bekam er die Unruhe, dort nach allemzu sehen und kamoft jammervoll elend zurück. Ruhiges Liegen zu Bett im ganz dunklen Zimmer,wo ich ihm ständig kühle Kompressen machte, war ihm am Wohltuendsten. Das Erbrechen war so sehr quälend für ihn, und zuweilen konnte er 24 Stunden nichts genießen. Manchmal wurde er durch die heftigen Schmerzen ohnmächtig. Es war wie eine Erlösung für ihn und uns, wenn der Anfall vorüber war. Seine früher so brillanten Augen litten häufig durch Flimmern und Blendung, auch konnte er das Fahren nicht mehr gut vertragen. Er ging zwei Mal den Weg zur Fabrik, abends auch zurück, mittags mir zuliebe fuhr er mit dem Wagen. (...) Oskars Erkrankung 1891 ließ ihn so besorgt in die Zukunft sehen, dass er (den damals 16 Jahre alten und einzigen Sohn) Karl (...) praktisch und technisch für seinen künftigen Beruf vorbilden ließ.

Zahnschmerzen

Die Sorgen um ihren Ehemann Oskar setzten sich fort. Für 1894 schreibt Sophie Henschel: „Oskar litt im Sommer sehr heftige Schmerzen an einem Augenzahn (ein Eckzahn), der unter dem Zahnfleisch eine Höhlung hatte. Der Nerv lag bloß, aber alle Bemühungen der Zahnärzte, ihn zu töten, waren vergeblich. (...)
Die Entzündung an dem kranken Zahn quälte Oskar sehr, und er entschloss sich deshalb, ihn sich ausziehen zu lassen. Seitdem verlor sich das Flimmern, (...) wir fuhren meistens nach Wilhelmshöhe und machten dort einen Rundgang.

   

Lungenentzündung

Luise Keudell (die zweitgeborene Tochter, mit Alexander von Keudell verheiratet) kam Anfang November hierher und fand den geliebten Vater sehr verändert. Am 8. November trat eine Lungenentzündung ein. In den ersten Tagen pflegte ich Oskar allein. In meiner Angst, die Pflege wohl nicht so gut zu verstehen wie erfahrene Rot-Kreuz-Schwestern, bekam ich dort zwei, die mich abwechselnd unterstützten. (...) Aber bei Lungenentzündung kann man so wenig tun, wenn die Natur des Kranken sich nicht hilft.
Sonnabend, 17. November, wo die Abendtemperatur 39 1/2 betrug, wurde den auswärtigen Kindern telegrafiert, sie möchten kommen. (...) Um zehn Uhr abends tat Oskar den letzten Atemzug und sein treues Herz den letzten Schlag.“

Lebenserinnerungen für die Kinder: Vier Exemplare hat Sophie Henschel angefertigt, eines für jedes Kind. Im Bild die Abschrift für Tochter Erna, die seit 1886 mit Ernst Kieckebusch verheiratet war. FOTO: CLAUDIA FESER
Lebenserinnerungen für die Kinder: Vier Exemplare hat Sophie Henschel angefertigt, eines für jedes Kind. Im Bild die Abschrift für Tochter Erna, die seit 1886 mit Ernst Kieckebusch verheiratet war. FOTO: CLAUDIA FESER
Fotografie als Schnappschuss: In einem Fotoalbum der Familie Henschel ist das Bild mit den Worten „Karl und Mama“ unterzeichnet. Das Foto wurde vermutlich auf dem Weinberg aufgenommen. SAMMLUNG: VEREIN HENSCHELMUSEUM
Fotografie als Schnappschuss: In einem Fotoalbum der Familie Henschel ist das Bild mit den Worten „Karl und Mama“ unterzeichnet. Das Foto wurde vermutlich auf dem Weinberg aufgenommen. SAMMLUNG: VEREIN HENSCHELMUSEUM

Gicht und Schlaganfall

Erst nach dem Tod des Ehemannes erwähnt sie eigene Krankheiten. „Seit Frühjahr 1895 litt ich sehr an Gicht, die Prof. Ebstein aus Göttingen für ererbt erklärte. (...) Mitte November 1900 (...) hatte ich morgens nach dem Ankleiden einen leichten Schlaganfall. (...) Geblieben ist mir seitdem nur ein plötzliches Versagen meines Gedächtnisses, dass ich Namen nicht erinnern kann und wohl auchmal eine andere Aussprache als ich beabsichtige. (...)

Grauer Star

Am 19. November 1905 fuhr ich nach Berlin, (...) und der weiche Star meines linken Auges wurde erfolgreich operiert. (...)

Gürtelrose

Als ich am 1. Juli 1910 abends bei Karl war, bekam ich so heftige Schmerzen in der linken Hüfte, dass ich nach Hause ging, um mich zu Bett zu legen. Es wurde Gürtelrose festgestellt, die furchtbar schmerzhaftwar und mich bis Mitte August ans Bett fesselte. Die Kaiserin ließ sich einige Male nach meinem Befinden erkundigen und sandte mir auch Blumen.“

Die Lebenserinnerungen von Sophie Henschel sind in einem aufwendigen Buch mit Goldschnitt gebunden. Eines davon befindet sich im Eigentum des Henschelmuseums. Die HNA hat das exklusive Recht, Auszüge daraus zu veröffentlichen.

Die nächste und letzte Folge widmet sich Sophie Henschels Einträgen über die Lokomotivfabrik.